Konfrontation statt Training – Reizüberflutung bei ängstlichen Hunden
Ein Beitrag von Wibke Hagemann
Das Training von Hunden ist sehr vielschichtig. In einigen Bereichen verwenden wir Methoden aus der menschlichen Psychotherapie, um Verhaltensprobleme zu kurieren. Viele Therapieansätze sind dabei durchaus auf Hunde anpassbar, jedoch längst nicht alle. Flooding (Reizüberflutung) ist eine Methode aus der Therapie für Menschen, von der in der Behandlung von ängstlichen Hunden dringend abzuraten ist. Ich erkläre Ihnen gerne, warum.
Lassen Sie uns zuerst ein Gedankenexperiment machen: Führen Sie sich ihre schlimmste Angst vor Augen – vielleicht das Fahren im Aufzug, in einem geschlossenen Sarg zu liegen, oder mit einem Tier, das Sie in Panik versetzt, in einem kleinen Raum eingeschlossen zu sein. Stellen Sie sich nun vor, jemand, dem Sie halbwegs vertrauen, bringt Sie in eine Situation, in der ihre Angst maximal ausgelöst wird – ohne Vorwarnung, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne Lösungsstrategie, ohne jemanden an Ihrer Seite, der helfen könnte. Eine schreckliche Vorstellung oder?
Vertrauensbruch, Kontrollverlust, Hilflosigkeit – genau das erleben Hunde bei einem Therapieversuch mit Reizüberflutung.
Dennoch gibt es Trainer und Hundehalter die diesen Trainingsansatz wählen – zuweilen wissentlich, manchmal unwissentlich. Dabei werden Hunde, die Angst vor fremden Menschen haben, stundenlang eng mit Menschengruppen konfrontiert. Es werden Hunde, die Angst vor Autos haben, stundenlang an stark befahrenen Straßen angebunden. Oder Hunde, die Angst vor anderen Hunden haben, werden stundenlang einer Gruppe fremder Hunde ausgesetzt.
Ziel dieses Ansatzes ist, dass der Hund sich an den Angstreiz gewöhnt und realisiert, dass es keinen Grund für seine Angst gibt.
Während der Reizüberflutung wird jeder Fluchtversuch des Hundes unterbunden oder verhindert, damit der Hund sich der Situation nicht entziehen kann. Damit dieser Therapieansatz wirkt, muss darüber hinaus die Dauer der Reizüberflutung so lange anhalten, bis der Hund ein Abebben der Angst und körpersprachlich Entspannung zeigt und das kann schon mal ein paar Stunden dauern.
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Bei der Therapie von Hunden ist das Flooding eine klassische Hauruck-Therapie.
Reizüberflutung als Methode ist bequem für den Menschen, der sie anwendet, aber extrem belastend für den Hund, an dem sie angewandt wird. Dazu sollte man einige Details dieses Therapieansatzes wissen:
Beim Menschen kann Flooding sowohl in der Vorstellung (Flooding in sensu) oder in der Realität (Flooding in vivo) durchgeführt werden. In der Therapie von ängstlichen Hunden kann nur der Einsatz von „Flooding in vivo“ durchgeführt werden, also eine massive Konfrontation mit dem Angstauslöser in der Realität.
Beim Flooding in vivo wird der menschliche Klient mit den tatsächlichen Angstsituationen und -reizen so stark konfrontiert, dass Angst ausgelöst wird. Ziel ist es, durch die Konfrontation mit dem Maximum an angstauslösenden Reizen (Reizüberflutung) eine Reaktionsüberflutung auszulösen. Unter Begleitung des vertrauten Therapeuten soll der Klient dabei die Erfahrung machen, dass die Angst keine katastrophalen Auswirkungen hat und von selbst wieder abnimmt.
Da Flooding zu einer massiven Stressreaktion und extremer Belastung des Klienten führt, ist diese Methode auch bei der Therapie von Menschen umstritten.
Ein langes und enges Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Klient ist essentiell für den Erfolg der Therapie. Der Therapeut muss außerdem über ausreichende Kenntnisse in der Theorie und Praxis der Methode verfügen, da eine mangelhafte Durchführung zur Verschlechterung des psychischen Zustandes führt und die Angst zukünftig verschlimmern kann (Sensibilisierung).
Der Mensch muss vor Einsatz dieser Methode einwilligen, umfassend über das informiert werden, was während der Sitzungen geschieht, sowie was er dabei tun soll und kann während der Sitzungen um Pausen oder Abbruch bitten. Oftmals gehen viele Sitzungen zur Vorbereitung vorweg, bevor dieser Therapieweg beschritten wird.
Im Buch „Verhaltensmedizin bei Hund und Katze: Ätiologie, Diagnose und Therapie“ von Barbara Schneider und Daphne Ketter steht: „[…] Ein großes Problem bei dieser Methode ist, dass das Tier bis zur Entspannung einem extremen Stress ausgesetzt ist. Zudem ist nicht gewährleistet, dass die Entspannung überhaupt eintritt. Ist dies nicht der Fall, oder aber, wenn das „Flooding“ zu früh abgebrochen wird, dann wird sich das ursprüngliche Angstproblem durch diese Aktion deutlich verstärken. […]“
Des Weiteren schreibt Anita Roscheraus Suhl in ihrer Dissertation an der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München: „[…] Die Reizüberflutungstherapie ist unter dem Begriff „Flooding“ bekannt (O’FARRELL,1991). Dabei wird der Hund dem angstauslösenden Stimulus so lange ausgesetzt, wie dies zu einer deutlichen Angstreduzierung erforderlich ist und infolgedessen die physiologischen Furchtreaktionen ausbleiben (HART u. HART, 1991; O’FARRELL, 1991; ECKSTEIN, 1996; ASKEW, 1997). Nur wenn der Hund keine Angstreaktion zeigt, wird er belohnt und der Stimulus entfernt (ECKSTEIN, 1996). Der Nachteil dieser Methode ist der große Zeitaufwand, dass die Angst des Hundes eskalieren und der Hund auch aggressiv reagieren kann (ASKEW,1997). O’FARRELL (1991) und ECKSTEIN (1996) erwähnen, dass diese Behandlungsmethode vom Patienten als äußerst unangenehm empfunden wird. Zudem kann eine gegenteilige Reaktion ausgelöst werden, so dass sich der Patient letztlich noch ängstlicher verhält als zuvor. […]“
Die Erkenntnisse über die starken Risiken und Nebenwirkungen dieser Methode, wie Aggression, Verschlimmerung des Angstverhaltens (Sensibilisierung) und Tierschutzrelevanz aufgrund des langanhaltenden und massiven Stresses, sollten eigentlich bereits ausreichen, um diesen Therapieansatz bei Hunden nicht einzusetzen.
In unserem Seminar „Training mit ängstlichen Hunden“ bekommen Sie kompetente Hilfestellung für den Umgang mit Ihrem ängstlichen Hund oder die Trainingsgestaltung in Ihrer Hundeschule.
Alle wichtigen therapeutischen Aspekte, die beim Menschen berücksichtigt werden müssen, sind beim Hund nicht umsetzbar.
Zwischen Hund und Mensch kann es kein vergleichbares vertrauensvolles Therapeuten-Klienten-Verhältnis geben. Der Hund kann nicht einwilligen und versteht nicht, was mit ihm geschieht. Er weiß nicht, dass es zu seinem Besten sein soll und er weiß auch nicht, was er tun soll, denn das hat ihm vorher niemand beigebracht.
Ein Mensch kann im Verlauf von Flooding-Sitzungen befragt werden und verbal Unterstützung durch den Therapeuten erfahren. Bei einem Hund können wir über die inneren Zustände nur mutmaßen und seine Körpersprache interpretieren. Darüber hinaus können wir die Wahrnehmung unserer Hunde während der Reizüberflutung nicht beeinflussen. Ob der Hund nach stundenlanger Angst therapiert oder einfach nur erschöpft ist, kann nur vermutet werden.
Startet man eine Reizüberflutung beim Hund, gilt nur noch „Augen zu und durch“, denn ein Abbruch hätte fatale Folgen auf das Verhalten der Zukunft. Überdies muss die Reizintensität durchgehend aufrecht erhalten werden, bis ein Abebben der Angst und Entspannung in der Körpersprache des Hundes sichtbar sind. Dies ist in vielen Fällen gar nicht realisierbar, weil dazu die Situation in allen Facetten zu 100% durch kontrollierte Umgebungsgestaltung gestellt werden müsste.
Reizüberflutung kommt also russischem Roulette mit der Psyche des Hundes gleich.
Der Einsatz dieser Methode ist ethisch und moralisch fragwürdig. Im Tierschutzgesetz steht: „Zweck des Tierschutzgesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf, dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“ (§ 1 TierSchG, www.gesetze-im-internet.de/tierschg).
Angst ist als „Leiden“ nach dem Tierschutzgesetz anerkannt.
Welchen vernünftigen Grund also sollte es geben, einem Tier das Leid einer solchen Therapie aufzubürden?
Wir haben im Training unendlich viele Wege, Angst bei Hunden zu therapieren. Dank Desensibilisierung, Management-Maßnahmen und gutem Training können wir ängstlichen Hunden helfen, ohne dabei gegen das Tierschutzgesetz zu verstoßen. Wir können unseren Hunden helfen, Selbstvertrauen zu gewinnen, um sich mit den Angstauslösern auseinander zu setzen. Wir können ihnen mit Umwelttraining helfen und in extremen Fällen Medikamente einsetzen.